Das Buch: "Sprache ohne Worte"

Psychotraumata: Biologische Selbstregulationsmechanismen


Deutsches Ärzteblatt: PP 11, Ausgabe April 2012, Seite 179 (Rahm, Dorothea)

Peter A. Levine, Biologe, Physiker und Psychologe, hat „Somatic Experiencing“ (SE) als ganzheitlichen Ansatz zur Traumaauflösung entwickelt. Er gilt als einer der bedeutendsten Forscher und Lehrer für das Verständnis und die Behandlung der psychischen und neurobiologischen Auswirkungen von Traumata. Mit seinem neuen Buch hat er ein wissenschaftlich fundiertes Lehrbuch vorgelegt, das so gar nicht wie ein wissenschaftliches Werk daherkommt. Das Buch ist fast im Plauderton geschrieben und lädt den Leser ein zu einer Entdeckungsreise in ein vielleicht noch wenig bekanntes Land. Die Landschaft erschließt sich durch eine Fülle anschaulicher und bisweilen spannender Darstellungen aus neurobiologischer Forschung, Tierverhaltensforschung und therapeutischer Praxis mit zahlreichen – zum Teil auch sehr persönlichen – Beispielen.

Levine schreibt über die Selbstregulationsfähigkeit des Nervensystems, eines Systems, das sich bei Mensch und Tier (bei Säugetieren ebenso wie bei Reptilien) im Verlauf von mehr als 80 Millionen Jahren entwickelt hat. Er beschreibt, wie Ereignisse, die vom Organismus als existenziell bedrohlich eingestuft werden, beim Menschen – im Unterschied zu in freier Wildbahn lebenden Tieren – zu Traumatisierung führen können. Dies geschieht, wenn bei physischer oder psychischer Bedrohung der biologische fight-flight-freeze-Ablauf gestört wird, wenn er nicht vollzogen beziehungsweise abgeschlossen werden kann. Eine Störung in diesem biologischen Ablauf kann durch „lähmende“ Angst und selbstreflexive Prozesse des Individuums entstehen und zusätzlich durch ungünstiges Verhalten der helfenden Personen. Hierdurch kann die Selbstregulationsfähigkeit des Nervensystems beeinträchtigt werden, also der Fähigkeit, Erregungszustände, Ängste und andere schwierige Emotionen zu regulieren. In der Folge können Symptome wie Schlaf- oder Konzentrationsstörungen, Angst- oder Panikstörungen, somatische Beschwerden oder Posttraumatische Belastungsstörungen entstehen.

Wie geschieht nun die Auflösung von Traumatisierungen durch SE? Über körperliche Empfindungen und deren Wahrnehmung bekommt man einen Zugang zum autonomen Nervensystem. Patienten lernen im Verlauf einer Therapie, ihre Körperempfindungen wahrzunehmen, sie angstfrei zu halten und auszuhalten und neugierig zu erkunden, wie die physiologischen Regulationskräfte des Nervensystems ihre Arbeit tun, wenn sie dazu eingeladen werden. Dies ist der Beginn eines Prozesses, der die Entkoppelung von tonischer Immobilität und „lähmender“ Angst ermöglicht. Wie dies geschehen kann, ist die hohe Kunst von SE und Thema des gesamten Buches.

Levine stellt Traumaarbeit mit SE nicht nur theoretisch, sondern auch sehr konkret anhand zahlreicher Beispiele aus seiner therapeutischen Arbeit mit Erwachsenen und Kindern vor. Darüber hinaus werden die Leser mit Hilfe kleiner Übungen auch zu eigenen Erfahrungen eingeladen.

Das Buch macht mit einem Prinzip vertraut, nämlich dem Erkennen, Achten und Zunutzemachen von biologischen Selbstregulationsmechanismen. Nicht nur in der Anwendung als reiner SE-Ansatz, sondern auch in Ergänzung und Erweiterung anderer psycho- und körpertherapeutischer Verfahren sowie im medizinischen und pädagogischen Bereich kann SE seine Wirksamkeit entfalten. Damit ist „Sprache ohne Worte“ eine wertvolle Bereicherung sowohl für Psychotherapeuten als auch für andere Professionen. Dorothea Rahm

Peter A. Levine: Sprache ohne Worte. Kösel, München 2011, 448 Seiten, gebunden, 27,99 Euro

Sprache ohne Worte

Video mit Peter A. Levine über sein Buch: "Sprache ohne Worte"
(3 min)

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